1.3. – 6.3.2011
Am Bahnhof von Mysore die erste Überraschung: Wir müssen nicht in Listen nach dem richtigen Gleis, Zug und Wagen unserer Reservierung suchen – es gibt alle paar Meter elektronische Wagenstandsanzeiger – und genau dort, wo wir den Bahnhof betreten, stehen wir auch schon richtig.
Der einfahrende Zug kommt dann doch aus einer anderen Zeit. Graublau gestrichen und mit niedrigen, schwer vergitterten Fenstern erinnert er eher an einen Gefangenentransport. Obwohl wir nur ein paar Stunden fahren, handelt es sich bei unserem Abteil um einen ‚Sleeper‘. 3 Liegen übereinander, das Abteil zum Gang offen und auf dem Gang finden sich auch noch einmal zwei Liegen. Noch aber ist alles hochgeklappt. Menschen stürmen herein und belegen mit Taschen und auseinandergefalteten Zeitungen Sitzflächen. Verkäufer laufen durch den immer noch stehenden Zug und versuchen Kaffee, Suppen und indische Brote an Frau und Mann zu bringen. Der Zug wird voll. Ein alter Mann, der erst neben Robert, dann neben mir sitzt, beugt sich immer wieder über uns um aus dem (vergitterten) Fenster zu spucken. Nicht gerade lecker, hier aber durchaus sozialkonform. Er ist überhaupt sehr neugierig, prüft Roberts Player, spielt an meinem (an meinem Arm befindlichen!) Armband – sein beeindruckend großer Zinken ist überall. So kommen wir mit einem 23-jährigen indischen Mann ins Gespräch, der zwischen Mysore und Bangalore pendelt. Bangalore ist eines der wichtigsten indischen IT-Zentren – unser Mann ist aber Banker. Sehr gebildet spricht er besseres Englisch, als wir es je tun werden. Sein Traum wie der vieler Inder seiner Generation, ins Ausland gehen und dort das verdiente Geld auch bekommen. Er arbeitet für einen amerikanischen Konzern, bekommt mit der gleichen Kompetenz für dieselbe Arbeit bei deutlich längerer Arbeitszeit aber weit weniger als seine amerikanischen Kollegen. Er erzählt uns aus welcher Kaste er stammt, den Namen habe ich vergessen, es sind die Besitzer des besseren Bodens auf dem Land, die sich auch erlauben können Ärmeren zu helfen, erfahren wir. Und natürlich sei das Problem seines Landes, dass die Dynamik von der Mittelschicht getragen wird, 20% der Bevölkerung aber in Armut leben, d.h. hier sich nur eine Mahlzeit am Tag erlauben können. Man kann sich vorstellen, welche Krisen die Inflation bei den Grundnahrungsmitteln hier leicht auslösen kann. Erinnert Ihr Euch noch an die Reiskrise 2008 (mehr wissen… Link 1, Link 2)?
Draußen zieht eine wunderschöne Landschaft vorbei. Reisfelder in leuchtendem Grün, wunderschöne Bäume, eine Idylle, die nichts von den Problemen des Landes verrät. (Wir haben ‚Der weiße Tiger‘ gelesen, den preisgekrönten Roman eines im Ausland aufgewachsenen indischen Schriftstellers. In einem fiktiven Brief an den chinesischen Ministerpräsidenten erzählt er seine Geschichte als Fahrer und erläutert sein Land. Zu empfehlen!) Es wird langsam dunkel, und als wir drei Stunden später Bangalore erreichen, ist stockdunkle Nacht. Der Bahnhof wimmelt vor Menschen. Eigentlich soll unser Nachtbus nach Hampi nur wenige Meter entfernt abfahren, aber den ‚leicht zu findenden Weg‘ kennt keiner und wir brauchen fast die gesamten 90 Minuten bis zur Abfahrt, laufen kreuz und quer über riesige Ausfallstraßen und Kreuzungen. Beinahe im vorbeifahren werden wir dann aufgesammelt und in unsere Betten gesteckt. Busse mit Liegeabteilen und Betten in zwei Etagen kennen wir schon aus Kambodscha. Sehr bequem und eindeutig aus diesem Jahrhundert!
Gegen sechs Uhr morgens kommen wir in Hospet an. Der Bus fährt doch nicht weiter nach Hampi und so lassen wir uns mit einer Motorrikscha durch die frische Morgenluft fahren. Fahrer und ‚Manager‘ sind beide kaum 20, die Rikscha neu. Wie jedes mal, wenn wir die ortsüblichen Preise nicht kennen, zahlen wir zu viel. Von Tippe und Wolf haben wir den Tipp bekommen in Hampi auf der anderen Flussseite zu wohnen, wir lassen uns also zur Fähre bringen. Das ist ein Boot, das täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fährt. Anlegestelle ist ein kleiner leicht eingesunkener Tempel. Bis in die frühen Vormittagsstunden ist hier auch Waschplatz für Menschen und Saris. Und weil der Fluss auch heilig ist, in diesen Tagen das wichtigste Shiva-Fest des Jahres stattfindet, ist entsprechend viel los.
Unsere Unterkunft erinnert an die Dekorationen der Berliner Open-Airs, die wir im Sommer zu Hause besuchen: Sitzen auf Matratzen an niedrigen Tischen, bunte Stofflampen, nette Musik. Was für ein Ausblick: Von der Höhe des anderen Ufers sehen wir direkt den großen Tempel und ein paar der Ruinen von Hampi. Das Essen ist so lecker und die Atmosphäre so entspannt, dass wir selten ‚fremdgehen‘ werden.
Relaxen in wunderschöner Landschaft mit vielen alten Bauten des Königreiches Hampi, das ist die Überschrift der kommenden Tage.
Gleich für den nächsten hatten wir eine Besichtigungstour mit unseren beiden Rikschaboys ausgemacht. Ohne die Preise zu kennen. Wann lernen wir endlich. Zuerst fahren wir zum größten Tempelgelände. Es ist noch nicht einmal Mittag, der Himmel etwas diesig, doch zwischen den Ruinen ist es unerträglich heiß. Die Tour ist der Lacher, fast alles hätten wir auch zu Fuß ansehen können und Mittags sind wir schon wieder da. Ich streite mich richtig, weil ich dreistes Lügen nicht leiden kann und weil ich es einmal versuchen will und spare so ein Drittel des ausgemachten Preises. Jetzt können wir alle wieder lachen und die beiden zum Tempelfest entlassen.
Shivaratri, das wichtigste Shiva-Fest des Jahres ist heute. Hampi ist für motorisierten Verkehr gesperrt. Aus verschiedenen Landesteilen sind Menschen mit ihren Familien gekommen um diesen Tag in Hampi zu feiern. Am Nachmitag stehen reinigende Waschungen im Fluss und Besichtigungen der alten Tempelruinen an. Hampi ist eigentlich eine Siedlung in alten Tempelruinen. Lange überdachte Laubengänge sind hier und dort verschlossen über Jahre zu Häusern geworden, einem Straßendorf. Denkmalschützer wollen die Menschen gerne umsiedeln, scheitern aber am Widerstand der Bewohner. Obwohl viele Menschen unterwegs sind, herrscht eine sehr friedliche Stimmung. Alle tragen schon ihre beste Kleidung oder machen sich gerade schön. Am Abend besuchen wir den Tempel. Hier ist es brechend voll. Sicher tausend sitzen hier auf dem Boden, erzählen und warten auf die Nacht, in der sie einem Gottesdienst folgen, singen und beten werden. Für einige gehört auch das Bang rauchen dazu. Marihuana ist eine eng mit Shiva verbundene Droge und daher in Indien zu bestimmten Festen oder an bestimmten besonders heiligen Orten geduldet oder legal. Leider müssen wir gehen, bevor das Fest in Gang kommt. Die letzte Fähre setzt gegen 18 Uhr über. Von unserem Bungalow aus werden wir fast die ganze Nacht Singen und Trommel hören. Nur dieses Mal bedauern wir auf der anderen Uferseite zu wohnen und fühlen uns ein wenig ausgeschlossen. Im Morgengrauen beginnt dann noch einmal das große Waschen und Baden. Es mischen sich die, die es jeden Morgen tun, mit denen, die eine lange Reise hierher gemacht haben. Wie große Banner liegen die bunten Saris der Frauen auf Treppen und Wiese der gegenüber liegenden Uferseite. (Shivaratri, mehr wissen...)
Auf unserer Seite liegt der Hanumantempel. Das Dorf, in dem Hanuman geboren sein soll, liegt wenige Kilometer entfernt und wir wandern zu Fuß durch die wunderschöne Landschaft. Grüne Felder prägen das Bild, immer wieder durchsetzt mit riesigen braunen monolithischen Steinen. Im Geburtsdorf angekommen machen wir vor einem kleinen Tee-Shop eine Pause, bevor wir die Stufen zum Tempel hinauf steigen. Ganz so viele wie in Mysore sind es nicht. Zu Beginn der Kletterei sind wir nicht schnell genug und haben sofort einen roten Punkt auf der Stirn, der für jeden 50 Rupien kosten soll. Je höher wir steigen, desto besser wird der Ausblick auf das Tal mit den Ruinen des vergangenen Königreiches. Auch die Anfänge einer Brücke können wir sehen, die erfolgreicher als in Dresden gestoppt wurde, um den Status Weltkulturerbe zu erhalten.
Auf der Begrenzungsmauer der Treppe liegen Zementsäcke. Stationen. Dünne Männer schleppen die 50 kg schweren Säcke an uns vorbei nach oben. Der einzige Weg. In dieser Affenhitze. Ein Job. Beeindruckend und krass. Oben liegen schon wieder zwei Alte auf der Lauer, die Geld haben wollen, damit sie auf unsere Schuhe aufpassen. Laut und lästig der eine. Fordernd. Aber welche Chance gibt es denn für alte Menschen, die keine Zementsäcke mehr schleppen können? Hier sind wenigstens Touristen. Vielleicht ein guter Job.
Oben ein kleiner Tempel. Ein schrappender aber ohrenbetäubender Lautsprecher verstärkt Gesänge aus dem Inneren. Das wirkt, wie viele Hindu Tempel für unsere Augen, eher unaufgeräumt, hässlich und vernachlässigt. Dieser wirkt wie eine Junggesellenbude: Bleiakkus und eine Generator sorgen für Licht und Sound. Matratzen liegen zusammengerollt auf Regalen mit Büchern und Zeitschriften. Alte Telefone und ein steinzeitlicher Röhrenmonitor stehen unter einem Tisch in Fensternähe. In einem kleinen Raum sitzen die beiden Priester vor Götterbildern und singen ins Mikrofon. Draußen ist Hanuman mit einfachen Strichen in bunten Plakatfarben an die Hauswand gemalt. Ein kleiner Schrein mit Shivalingam ist in den Boden eingelassen. Davor ein Baum, über und über mit bunten Bändern geschmückt, die sich im Wind bewegen. Ein wunderschönes ruhiges Bild. Von dem kleinen Plateau, auf dem der Tempel gebaut ist, haben wir einen wunderbaren Blick in die Landschaft. Warmes Braun und sattes Grün. Die großen Steine scheint irgendwer vergessen zu haben. Ihre Größe erinnert nicht an menschliches Maß. Wir bleiben einige Zeit und genießen diese weltferne Atmosphäre. So wirkt es nämlich trotz der angestaubten Artefakte moderner Zeit.
Am Fuß der Treppe bettelt eine Alte mit schlimmem Gesicht, verkrüppelten Händen und Füßen.
Den Sonnenuntergang versuchen wir jeden Abend aus den Steinbergen zu erleben. Leicht erhöht liegen riesige Felsbrocken, meist in runden Formen, so als wären sie beim Spielen liegen geblieben. Riesige Flächen scheinen aus einem Stück zu sein. Dazwischen ein paar Sträucher und Gräser. Zum Horizont, dem Fluss abgewandt, scheint sich diese Landschaft ins unendliche zu erstrecken. Erst sind wir allein, dann kommen Westler mit auf den Rücken geschnallten Matratzen. Eine romantische Nacht im Freien? Nein es sind weibliche und männliche Kletterer, die sich an den Steinen hier versuchen. Die Matte soll Missgeschicke abfangen.
Hampi ist ein schöner Ort. Die Mischung aus Natur, Kultur und indischem Leben ist ausgewogen. Außerhalb der Tempelzonen treffen wir meist Langzeitreisende und Winterflüchtlinge. Entsprechend entspannt ist die Atmosphäre. Wir lernen Inga und Jutta kennen. Beide sind von Norden nach Süden unterwegs. In Goa haben sie mit Yoga begonnen und Jutta gestaltet auch hier ihren Tag entsprechend. Inga hat sich den Magen verdorben und ist etwas eingeschränkt. Mit ihr besichtigen wir den Haupttempel Hampis mit seinen beiden Türmen. Am Tag vom Shivaratri waren wir schon einmal hier, sind aber im Hof stecken geblieben. Heute ist weniger los, wir lassen uns führen und bekommen verschiedenste Schreine und Winkel zu sehen. Der wichtigste Lingam wird zweimal täglich umgezogen. Vormittags wie eine Blume geschmückt, bekommt er nach zwölf ein Kleid. Ein mit hübschen Szenen und Götterbildern ausgeschmückter Bereich dient auch heute noch Hochzeiten. Wenn Inder und Inderin sich das leisten können. Nicht nur religiöse auch weltliche Zwecke haben die Könige beim Bau dieser Anlagen beabsichtigt. Und auch sexuelle Szenen finden sich in Stein gehauen. Überhaupt, wie war das bei uns vor dem jeden Sex und jede Körperlichkeit tabuisierendem 19. Jahrhundert. Können wir uns noch eine Welt vorstellen, in der Körperlust und Sexualorgane einfach so abgebildet werden? Hier und auch in Nepal, ist deren Darstellung absolut selbstverständlich. Sie hat nichts anrüchiges. Fehlte das Glied oder der Busen, fehlte etwas wesentliches.
Anders als weiter im Norden können auch Nicht-Hindus die Tempel betreten. Vor den wichtigsten Götterbildern sind aber fast immer Absperrungen, hinter denen sich nur Priester aufhalten dürfen. Gegen Ende unseres Rundgangs werden wir in einen unterirdischen Schrein geführt, in dem sich ein Lingam (Shiva) und eine Vishnu-Figur gemeinsam befinden. Unser Guide segnet uns hier und wünscht uns eine sichere Reise.
Am Zugang zum Tempel lebt eine alte Elefantendame. Sie ist mit Farben bemalt und Blüten geschmückt. Gläubigen legt sie den Rüssel auf den Kopf um sie zu segnen, dann nimmt sie einen kleinen Schein entgegen. Aus Stein sind drei Kühe. In diesem Fall keine Abbilder von Nandi, die Vehikel Shivas, sondern Symbole für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Unseren letzten Nachmittag verbringen wir am Fluss. Wir machen einen ausgiebigen Spaziergang durch alte Tempelruinen am Wasser. Auf dem Rückweg klettern wir durch eine Findlingslandschaft direkt am Wasser. Und entdecken viele Gravuren und Bildhauereien in den Steinen. Geschmückt mit Blütenblättern, roter und weißer Farbe weisen sie inmitten der Natur auf einen lebendig gelebten Kult.
In gewisser Weise fangen wir in Hampi an, das lebendig zu erleben, von dem wir in Seam Reap (Anchor) nur historische Spuren gesehen haben. Undurchschaubar, ein wenig unheimlich und archaisch wirkt der Kult noch immer, aber viel farbiger und dynamischer. Dunkler als in Kambodscha wirken die Lingams, Götterfiguren und heiligen Steine. Sie werden mit Kokoswasser und Ölen übergossen, was sie glänzen lässt und tief schwarz färbt. Uns ist nicht immer klar, warum ein Stein, eine Figur verehrt wird. Manche sind gänzlich unförmig, liegen an unbedeutenden Stellen am Straßenrand in kleinen Nischen und machen nur durch ihre dunkle Färbung und die orangenen, roten und weißen Pigmente ihre Bedeutung deutlich. Es scheint, dass im Hinduismus etwas nicht unbedingt schön sein muss um heilig zu sein.
Bäume sind immer wieder heilig. Zwischen den Tempeln entdecken wir immer wieder einzelne Exemplare, die von oben bis unten mit Plastiktüten und alten Kleidern behängt sind. Für unsere Augen sieht es aus, als wären die Bäume mit halbvollen Mülltüten behängt. Nur der stark sichtbare Wille lässt auf eine religiöse Bedeutung schließen, die wir aber nicht entschlüsseln können.
Bevor wir nach Goa weiter reisen, erhalten wir von Jutta und Inga noch einen Brief, den wir in Palolem einem Yogalehrer übergeben sollen. Der Brief kommt schon aus Deutschland und wird uns eine aufregende Erfahrung bereiten. Fortsetzung folgt…
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