Wir verlassen unser kleines Paradies, Kurort für Backpacker, Familien, Träumer und harmlos Verrückte mit dem Taxi. Im Wegfahren sehen wir zum ersten Mal die wunderschöne umgebende Landschaft: Kleine Hügel, Alleen und leuchtend grüne Reisfelder. Die Dörfer, durch die wir dann kommen, sind schon weniger schön.
Der Flughafen wirkt verschlafen. Wir sind viel zu früh und können noch nicht einchecken. Unser Weg nach Varanasi führt über Hyderabad und Dehli. Dreimal Starten und Landen – für Robert der Horror. Den ersten Teilabschnitt fliegen wir mit einer Propellermaschine. Dennoch ein angenehmer Flug. In Hyderabad erwartet uns ein nagelneuer Flughafen. Robert hatte von einer preiswerten Übernachtungsmöglichkeit in Schlafsälen am Flughafen gelesen. Was wir dann am Ziel des Wegweisers ’nap and shower‘ vorfinden ist ein 4-Sternehotel: 6 Stunden ‚Nickerchen und Dusche‘ kosten 55 Euro, 10 Stunden 75 Euro. Abendessen, Internet und Frühstück allerdings inklusive. Wir stehen noch etwas unentschlossen vor der Tür, als eine Empfangsdame des Hotels auf uns zukommt und uns auf eine wesentlich günstigere Möglichkeit der Übernachtung hinweist. Der eigentliche Ursprung der Luxusübernachtung am neuen Flughafen liegt in diesem einfachen Schlafsaal, nur fünf Minuten mit dem Shuttlebus entfernt. Dort gibt es auch Doppelzimmer, mit AC, TV und Marmorbad für 20 Euro. So eines reserviert sie uns noch fix. Danke!
Mitten in der Nacht kommt eine SMS, die eine mehr als 4-stündige Verspätung unseres Fluges Hyderabad – Dehli ankündigt. Vier Stunden heißt, wir können unseren Anschluss-Flug nach Varanasi nicht mehr bekommen. Trotzdem verlassen wir um 4 Uhr das Hotel und versuchen unser Glück. Der Flug ist tatsächlich um 6 Stunden verschoben. Mit einem Haufen aufgebrachter Inder stehen wir am Jet-Airways Schalter. Man verspricht uns sich um uns zu kümmern. Eine gefühlte Ewigkeit später haben alle Inder neue Tickets, nur wir stehen, obwohl wir die Zweiten in der Schlange waren, immer noch da. Zauberei Indiens. Am Ende aber wird alles gut, wir werden in eine Air-India Maschine verfrachtet, bekommen sogar ein Frühstück an Bord und erreichen unseren Anschluss pünktlich.
Varanasi (28.3.-02.4)
Mit unserem Hotel haben wir Flughafentransfer vereinbart. Die Straße geht eine lange Zeit geradeaus durch die staubige Hitze. Links und rechts Vorstadtleben. Farbige Werbungen auf Mauern und Wänden sind in leuchtenden Farben gemalt. Drucken wäre teurer. Arbeit kostet nichts. Frauen formen Kuhdung mit etwas Wasser zu Fladen und legen sie zum Trocknen in die Sonne. Brennstoffproduktion. Die trockenen Naturbrikets werden zu Haufen geschichtet, die mich an Großvaters Brennholzhaufen auf der Wiese hinter dem Haus erinnern. Runde, oben stumpfe Kegel. Heftiger Verkehr. Mittlerweile vertraue ich den Fahrern einfach (oder doch mehr meinem Glück?) und schaue aus dem Seitenfenster: Etwas Industrie, Straßensiedlungen, kleine Läden. Es ist unglaublich heiß. Je näher wir der Stadt kommen, desto dichter und bunter wird das Leben. Geschäft an Geschäft, Mensch an Mensch. Schließlich scheint es nicht dichter zu gehen. Wir halten an, ‚two boys are coming‘ und schnappen sich unsere Rucksäcke. Wir folgen durch engste Gassen über Kuhkacke und anderen Dreck. (Füße kann man waschen – und Berliner Hundeschiss riecht wesentlich übler. Muss am Essen liegen. In Varanasi sind wahrscheinlich auch die Hunde Vegetarier). An der ersten Ecke haben wir schon einen knapp 18-jährigen Jungen am Heck, der uns führen und Varanasi zeigen will. Belesen wissen wir, dass das Schlepperei in Silber- und Seidenfabrik oder Geld bedeutet. Im Hotel erst mal Ernüchterung: Wir haben das schönste Zimmer gebucht. War es vielleicht auch mal – in den Achtzigern. Und vor der Tür wird die Farbe von den Wänden geschliffen – natürlich mit der Hand – denn??? Richtig, Arbeit kostet nichts! Zweimal muss ein pubertierender Junge ins Zimmer geschickt werden, bis die schlimmsten Staubhaufen verschwunden sind. Ich kann immer noch Geschichten auf die Glasplatte der kleinen Tischchen schreiben, wie soll das auch gehen mit einem trockenen alten Handtuch, das sicher Wochen kein Wasser gesehen hat? OK – Arbeit kostet nichts. Robert fällt das Atmen schwer. Wir müssen ziemlich Dampf ablassen, bis die Bauarbeiter zurück gepfiffen werden und nochmal geputzt wird. Am nächsten Tag schleifen sie wieder. Am übernächsten haben wir endlich ein anderes Zimmer. Aber der Ausblick vom Balkon auf den Ganges ist traumhaft!
Varanasi ist eine der heiligsten Städte Indiens. Wer hier stirbt, kann unmittelbar dem Kreislauf der Wiedergeburt entrinnen. Wer hier im Ganges badet und seine Kleider wäscht, kann sein Karma reinigen und sich von Missetaten dieses oder früherer Leben reinwaschen. Wer immer sich es leisten kann kommt hierher um betrauerte Verwandte, geehrte Eltern oder Großeltern an einem der beiden Verbrennungsplätze einäschern zu lassen. Auch das reinigt das Karma in besonderer Weise. (mehr wissen…)
Erster Spaziergang führt uns entlang des Flusses bis zum Assi Ghat. Kühe, Kot und Urin. Menschen, die sich baden und ihre Wäsche waschen. Nichts kann auf diese vielen und dichten Sinneseindrücke vorbereiten. Ein Ghat reiht sich an das nächste. Ghats, das sind Treppen und Bauten darauf, die das Ufer bilden. Es gibt größere, die sich zu einem Platz ausdehnen, die dann immer voller Menschen sind. Die Haupteinkaufsstraße Varanasis endet an solch einem Ghat. Hier werden abends unter großer Beteiligung Zeremonien für Ganga, Göttin und Mutter Indiens, abgehalten. An manchen Ghats ist der Uferweg sehr schmal, weil er direkt an großen Bauten vorbeiführt.(Ab-)Wasser fließt in kleinen Rinnsalen durch und über die Treppen der Ghats. Gläubige vollziehen ihre Pujas (Gebete) und baden direkt neben den Abflussrohren. Ab und an sehen wir einen Sadhu. Das Orange ihrer Kleidung glüht mit der Nachmittagssonne.
Weil Varanasi die Stadt Shivas ist und weil viele junge Westler aus diesem Grund hierher kommen, wird uns immer wieder Marihuana angeboten. In einer der kleinen Gässchen am Hauptverbrennungsghat finden wir später auch einen staatlichen Bang-Shop. Was die Straßenhändler anbieten ist natürlich deutlich stärker und es bleibt nicht beim Hanf.
Nachmittag. Warmes Licht liegt auf dem Wasser und der anderen Uferseite. Dort, wo keine Stadt ist, sehen wir im weiten Sand nur ein paar Zelte. Und auch hier, weniger allerdings, Menschen, die sich waschen. Die Vorabendstimmung ist ziemlich entspannt, verglichen mit der Hektik und Betriebsamkeit am frühen Morgen oder während der Ganga-Artis nach Einbruch der Dunkelheit. Trotzdem bin ich nach zwei Stunden völlig geschafft und beinahe blockiert von den vielen und intensiven Sinneseindrücken. Vieles wirkt archaisch, elementar und gewaltig. Immer wieder kleine Verschläge, Mauernischen mit Lingams, Yonis, Nandis und anderen heiligen Figuren. Auch hier manchmal unförmige Steine, mit orangner Lackfarbe angestrichen. Die Kraft der Religion ist deutlich spürbar. Es ist die Kraft und der Glauben der Hindus, die hierher kommen. Und es ist kein ‚lieber Gott‘. Hinduistische Götter sind, ähnlich denen der alten Griechen, launisch, menschlich, gut und böse. Shiva, der mächtigste von allen, wütet, lacht und feiert, entfaltet aber mit seinem Tanzen und Trommeln die Welt erst in ihre jetzige Dimension und hält mit seinem linken Fuß den Zwerg der Illusion in Schach. (Robert kann vom Zweikampf Vishnus und Brahmas erzählen und weiß auch, warum dem Schöpfergott, Brahma, nur in einer indischen Stadt gehuldigt wird).
Die Kraft des Glaubens, die wir überall in Asien lebendig gespürt haben (im ‚westlichen‘ Thailand und in den chinesischen Tempeln weniger) ist hier am stärksten.
Varanasi ist unbeschreiblich, unvergleichlich mit allem was ich vorher gesehen habe, und dieser Bericht wird es schwer haben einen Teil der Gefühle zu transportieren. Durch diese Stadt zu laufen lässt sich am ehesten damit vergleichen in einer lebendigen Historien-Film-Kulisse umher zu wandern. Mittelalter und Gegenwart. Tief verwurzelte (aus unserer Sicht archaische) Religion und touristisches Treiben. Jeweils nach ein paar Stunden ist unser Kopf so voll von Sinneseindrücken, dass wir uns erst einmal zurückziehen, etwas essen, trinken. Hinter den Ghats beginnt ein Netz enger Gassen, schmal aber voller Leben. Und bunt, dieses Licht, diese Farben werden mich immer wieder nach Indien locken.
An unserem zweiten Abend nehmen wir an einer Ganga-Arti, der Huldigung der Göttin, Mutter Indiens und des (weiblichen) Flusses Ganges, teil. Wir sitzen am Rand aber doch mitten in einer Gruppe Inder nahe an einem mit starkem Draht verblendeten Kasten, der mit motorisch angetriebenen Glocken und Trommeln den Rhythmus angibt. Eine dreiviertel Stunde lang wird Ganga mit Blütenblättern, Feuer, Tüchern verehrt. Die Stimmung ist beeindruckend. Auf dem Fluss haben sich viele Boote versammelt, Lichter schwimmen in kleinen mit Rosenblättern gefüllten Schalen im Fluss. Die Priester (sind es Priester?) machen stark formalisierte Hand- und Beinbewegungen mit den verschiedenen Instrumenten. Ab und an blasen sie einen Ton auf einer Muschel oder kippen etwas Wasser aus der Muschel auf den Boden. Es wirkt beinahe wie Tanz, stark rhythmisiert und andächtig und doch dynamisch kraftvoll. Gegen Ende stören westliche Touristen, die unbedingt ein Foto machen wollen. Mit Schuhen (das tut man nicht) laufen sie zwischen den Gläubigen hindurch, stellen sich vor die Sitzenden um ein Bild zu nehmen. Hier sind es die Alten, die 50-70-jährigen, die besonders ignorant sind und unangenehm auffallen.
Varanasi Ganga Aarti from Harry le Frigo on Vimeo.
Zwei wichtige Verbrennungsplätze gibt es im Stadtgebiet. Das Marnikanika-Ghat, nur wenige zig Meter von unserem Hotel entfernt, ist das bedeutendste. Tag und Nacht brennen die Scheiterhaufen. Nachdem das Holz gekauft und der Scheiterhaufen bereitet ist, wird die Leiche noch einmal mit Gangeswasser besprengt. Der älteste Sohn läuft einige Mal mit einem brennenden Grasbüschel um den Holzstoß, bevor er ihn anzündet. Seine Aufgabe wird es auch sein den Schädel zu zertrümmern, damit die Seele vollständig befreit werden kann, falls das Feuer seine Arbeit nicht gründlich macht. Dann setzt sich die Familie etwas abseits und schaut der Verbrennung zu. Frauen sind so nahe nicht zugelassen. Der Hintergrund ist, dass starke Gefühle, Schmerz und Trauer den Verstorbenen hindern könnten diese Welt zu verlassen. Nun, die Praxis, die wir sehen, ist etwas lockerer und die stärksten Gefühle zeigt ein junger Mann, vielleicht zwanzig, ein Erstgeborener, der schluchzt und weint, immer wieder gestützt werden muss in seiner Trauer. Fotografieren ist hier verboten. Und das ist gut so. Stellt Euch vor, ihr beerdigt einen Freund, eine Horde Chinesen (wer auch immer) kommt mit ihren Turnschuhen und Baseball-Caps vorbei, schubst ein wenig und hält dann ihre Objektive in die Grube. Offensichtlich ist das aber für viele Reisende nicht vergleichbar, sie bekommen den Transfer nicht hin. Ich hätte erwartet, dass brennendes Menschenfleisch riecht. Gar nichts, kaum das Holz kann man riechen. Wenn der Wind dreht, brennt der Rauch ein wenig in den Augen. Das ist alles. (mehr wissen…)
Immer wieder verbringen wir eine längere Zeit an den Ghats. Meist an dem weniger bedeutenden, wo weniger wohlhabende Familien ihre Lieben verbrennen. Hier können wir etwas besser sehen und trotzdem den uns angemessenen Abstand halten. Die sehr friedliche Atmosphäre beruhigt und macht den Kopf klar. Alle Elemente spiele eine Rolle bei der Einäscherung. Das Feuer, bei uns im Westen gefürchtet und diskriminiert, ist hier das Element der Transformation und überall gegenwärtig. Es bringt von einem Zustand in den anderen. Hier hat es auch mit Reinigung zu tun. Die Asche wird später ins Wasser gestreut, die Luft trägt den Rauch davon. Nur wenige Meter links vom Verbrennungsplatz waschen Kinder ihre Kleidung und sich selbst. Ganz eingeseift springen sie ins Wasser und waschen den Schaum ab. Dann wird sich an einem der Scheiterhaufen aufgewärmt. Leben und Tod nah beieinander. Beide öffentlich. Nach oder während der Verbrennung lässt sich die Familie die Haare scheren. Ein kleiner Stiez bleibt auf dem Hinterkopf zurück. Deutlich sichtbares Zeichen des Verlustes. Und – denn Haare wachsen ja immer weiter – auch des darüber hinweg kommens. Alles wandelt sich, nichts bleibt wie es ist. Wie schwer ist es für uns im Westen das zu akzeptieren.
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